Ohne Ariadnes Faden
Lesen ist eine meiner großen Leidenschaften. Kritisches Lesen geisteswissenschaftlicher oder soziologischer (Fach-) Literatur macht mir dabei ein spezielles, fast sportliches Vergnügen.
Der Argumentation eines Autors, einer Autorin folgen, Spuren der gedanklichen Entwicklung nachgehen, nachhaken, infrage stellen, das ist sehr anregend. Dabei wird man nicht selten hineingezogen in ein, manchmal mehrere Labyrinthe, die sich teils überlagern und durchdringen. Denken ist seit meiner Jugend eine Leidenschaft, nicht selten im Wortsinn. Da sich mein Denken vor allem aus Lesen und Begegnungen mit anderen Lesenden speist, aus Nachdenken und Nachfragen, hat sich im Laufe der Jahrzehnte einiges an Resonanz- und Verweisraum entwickelt, genügend, um kritisches Lesen zu nähren und zu befeuern. Dabei bleibe ich immer hungrig nach weiteren Einsichten und offen für Revisionen eigenen Denkens.
Gerade geht es mir wieder so. Ich lese von Andreas Reckwitz „Die Gesellschaft der Singularitäten”. Nun lese ich das Buch als gelernter Philosoph sicherlich anders als gelernte Soziologen und womöglich wird es da auch im Kontext wissenschaftstheoretischen Zugangs Abweichungen geben. Stoße ich auf Aussagen, die mir eher Behauptungen zu sein scheinen, dann gehe ich diesen nach. Dabei verlaufe ich mich gerne auch in manche Holzwege, manchmal gerate ich in ein teils widersprüchliches Gestrüpp von „changierenden” Begrifflichkeiten und Auslegungen, Interpretationen. Dabei sind klare Begriffe dem Philosophen wohl wichtiger als dem Soziologen, ganz im Sinne Habermas: Die Begriffsanalyse ist überall der Köngsweg der Philosophie, und überall muss sich die Durchführung theoretischer Ansätze an Maßstäben analytischer Klarheit und Strenge der Argumentation messen lassen.
Je granularer das Nachgehen, desto eher gibt es diese Verstrickungen. Dann muss ich meist etwas zurück, mich methodisch und begrifflich vergewissern – was selbst wiederum häufig herausfordernd ist – und kann dann erst versuchen, einen Faden (wieder) zu finden. Es ist aber nicht Ariadnes Faden, der mich aus den Untiefen des Nachforschens wieder zurückbringen könnte, sondern der unterstellte Faden, der mich zu einer Lösung, einem Verstehen führen könnte. Häufig bleibt es beim fadenlosen Nachgehen in unsicherem und zumeist unübersichtlichem Terrain. Das ist ein Zustand, mit dem man leben lernen muss und der sich deutlich von jener Selbstgewissheit unterscheidet, zu der manch andere schon nach wenig Nachdenken schnell gefunden haben wollen.
Manche Bücher machen mich auch ärgerlich, wie das etwas wirre und wie ich meine wissenschaftlich zudem unsauber gearbeitete Buch des Soziologen Armin Nassehi, „Theorie der digitalen Gesellschaft”, das so in großem Gestus daherkommt und weit, teils rhetorisch selbstgefällig ausholt. Es ist mäßig strukturiert, unsystematisch, räsonnierend, redundant und wirkt über weite Strecken wie eine Assemblage aus Vorträgen, schon publizierter Texte und Vorlesungsskripte, über einige durchaus geistreiche Gedanken gestülpt. Es zählt zu den enttäuschendsten Büchern, die ich in den vergangenen Jahren gelesen habe. [Buchkritik]
Dann wiederum gibt es das wegen Plagiatsvorwürfen medial vernichtete Buch der Soziologin Cornelia Koppetsch Die Gesellschaft des Zorns
. Es mag stimmen, dass die Urheber*innen von Begriffen und Formulierungen nicht konsequent genannt, beziehungsweise nicht richtig zitiert und ausgewiesen wurden, dass manche wörtlich übernommene, fremde Passagen nicht kenntlich gemacht wurden. Das ist peinlich, insbesondere für eine Professorin, die Studierenden exaktes wissenschaftliches Arbeiten abverlangen muss und es selbst damit offenbar nicht so genau nimmt. Das kann man in einer verbesserten Auflage beheben. Wirklich tragisch ist, dass über diesen im Boulevard ausgewälzten, letztlich aber akademischen Skandal das Buch selbst, d.h. der Inhalt völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Das Buch ist, Monate nach Bekanntwerden der Plagiate immer noch nicht wieder im Buchhandel erhältlich, auch nicht bei großen Online Buchhändlern wie beispielsweise Amazon oder Thalia. Es ist selbst in vielen Bibliotheken nicht mehr ausleihbar. Ich halte das für den weitaus größeren Skandal, denn das Buch ist ein wichtiger Beitrag in der Auseinandersetzung mit der Neuen Rechten und nun ist es dem Diskurs und den Diskussionen entzogen. [siehe Kommentar dazu]
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