Sudelbuch

  • Startseite
  • Einträge
  • puh

Lebenszeichen

25. Jul 2018/cal /unschärfe / 23. Feb 2019

Liebe Theresa,

Du wirst womöglich überrascht sein, nach Jahren von mir einen Brief zu bekommen, ein Lebenszeichen. Es kam immer etwas dazwischen und offen gestanden hatte ich Dich aus den Augen verloren, weil anderes ins Blickfeld drängte. Ich nehme an, dass es bei Dir ähnlich war, denn Du hast Deinerseits nichts hören lassen.

Ich hoffe es geht Dir gut und Du hast viele Deiner Ziele, die Dich in unserer gemeinsamen Studienzeit begeisterten, erreichen können. Manches kann ich in LinkedIn nachlesen. Ich gratuliere Dir zu Deiner Karriere! Spannend finde ich, dass wir beide, ich glaube aber auch Udo und Maria, nach dem Studium einen ganz anderen beruflichen Weg eingeschlagen haben und nicht als Theologen in den pastoralen Dienst gegangen sind. Ich zumindest bin froh, dass ich das damals nicht gemacht habe.

Du fragst sicherlich nach dem Anlass meines Briefes. Während unseres gemeinsamen Studiums saßen wir mit Freunden und Freundinnen oft Nächte lang zusammen und diskutierten. Es drehte sich viel um politische Theologie, wenn ich das so summieren kann. Vor allem Johann Baptist Metz und die Befreiungstheologie beschäftigte uns damals. Erinnerst Du Dich noch an die Politischen Nachtgebete in der Krypta? Damals waren viele von uns in der Friedensbewegung aktiv, demonstrierten gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing II. In Erinnerung ist mir, dass der deutsche Verfassungsschutz versucht hatte, Sabine und ihren damaligen Freund als Spitzel zu rekrutieren und ihnen versprach, ihr Studium zu finanzieren und für ihre Karrieren zu sorgen. Weißt Du noch?

Es geht nicht um Sentimentalität. Es geht vielmehr darum, den Versuch zu wagen, einen liegen gelassenen Faden wieder aufzugreifen. Die Kirchen, in unseren Breiten vor allem die katholische Kirche, tun sich mehr als schwer angesichts der Herausforderungen, denen wir uns seit einigen Jahren gegenüber gestellt sehen. Diakonie und Caritas, sie sind es, die das Ansehen der beiden großen christlichen Glaubensgemeinschaften noch stützen. In Österreich, wo ich seit fast 30 Jahren lebe und verheiratet bin, versagen die Kirchen. Besonders die katholische Kirche ist nach zahllosen Skandalen unglaubwürdig geworden. Ihr gesellschaftlicher Einfluss ist kaum mehr auszumachen.

Mag sein, dass sich der eine oder andere Bischof oder Superintendent beispielsweise zur hässlichen Politik der rechtspopulistischen Regierung von ÖVP/ FPÖ geäußert hat, in den Medien hat das keinen, zumindest keinen spürbaren Niederschlag gefunden, von Echo ganz schweigen. Die Kirchen sind keine relevante gesellschaftliche Kraft mehr. Sie haben ihren Einfluss weitgehend verloren. Dass sie in offenen Widerstand gegen Entwicklungen gehen, die mit dem Evangelium nicht mehr in Einklang zu bringen sind, ist derzeit nicht vorstellbar. Es bliebe wohl zunächst auch weitgehend wirkungslos. Das mag alles viel zu pauschal kritisiert sein, ich weiß. Es gibt da viele Einzelne und Gruppen, die sich sehr bemühen. Es gibt einen Papst Franziskus, den ich sehr schätze, der das Evangelium aus dem Geist des 2.Vatikanums und im Einfluss der Befreiungstheologie lebt. Aber als Institutionen haben sie doch an Relevanz verloren und das nicht zu unrecht. Damit möchte ich das Thema Kirchen wieder beiseite legen.

Meine Frage ist: In unseren Gesellschaften gibt es Entwicklungen, die mir sehr zu schaffen machen. Aktuelle rechtspopulistische Entwicklungen, eine zunehmend rücksichtsloser agierende Wirtschaft und vor allem die schnell wachsende Zahl an Menschen, die brutal, egoistisch und dumm agieren, beschäftigen mich.

Ich möchte diese Entwicklung besser verstehen lernen, um dann in ein Handeln zu kommen. Dabei suche ich den Austausch mit Menschen, die ich schätze und von denen ich weiß, dass sie kritisch nachdenken. Da bist auch Du mir eingefallen. Ich weiß natürlich nicht, in welcher Lebenssituation Dich dieser Brief erreicht. Ich hoffe aber, dass sich ein Gedankenaustausch ergeben wird.


Ich freue mich auf Deine Antwort.
Einstweilen, herzliche Grüße
C.

 


Die Korrespondenz mit Theresa im Überblick

 

Tags: BriefeTheresa
  • Prev
  • All Posts
  • Nächste

Noch kein Feedback


Formular wird geladen...

Kommentar-Feed für diesen Eintrag

Das hier ist ein privates Blog, offen geschrieben.

Neueste Posts

  • Beim Schlagen macht „und” und „auf” einen großen Unterschied
  • Aufgeklärter Islam?
  • Kafka und österreichische Behörden - Parteienstellung
  • Manche Sätze verlieren nicht an Aktualität
  • Die Überheblichkeit journalistischer Selbstgefälligkeit
  • Trauma und Gegenwart
  • Diagnose - Fahrlässiger Umgang mit einem Begriff
  • Blattschuss
  • bartleby
  • sebastian kurz
  • Entwicklung – eine verhängnisvolle Ideologie
  • Lilith
  • Journal – Auf der Suche nach einem Schreibstil
  • Wenn Landeier in die Stadt ziehen
  • Österreich ist nicht Schweden – COVID 19
  • Perspektivwechsel #382
  • Grabinschrift
  • Fressen und gefressen werden
  • Alois Reiter RIP
  • Gott ist tot

Kategorien

  • Alle
  • gehört
  • gelesen
  • gesehen
  • gerochen
  • passiert
  • nachbarschaften
  • unschärfe
  • schweigen
  • spielen
  • zitate
  • widerstehen

XML-Feeds

  • RSS 2.0: Einträge, Kommentare
  • Atom: Einträge, Kommentare

Tags

Afd Anstand Aufklärung Bartleby Befreiungstheologie Bildung Brandstifter Briefe Bücher DDR Demokratie Digitalisierung «Donald Trump» «Erich Fromm» Erinnerung Ethik Faschismus Flüchtlingspolitik FPÖ «Gabriele Pflug» «Gaudium et Spes» Gedächtnis gegenwart Gewalt Gier Gott Handstreich «HC Strache» «Herbert Kickl» «Johann Baptist Metz» Korruption Kritik Lesen LILA Literatur Macht Manipulation Martin Menschenverachtung Moral Nachbarn Nationalsozialismus Nazismus Perspektivenwechsel Politik Rechtsextremismus Rechtsnationalismus Rechtspopulismus Schöpfung «Sebastian Kurz» Service Souverän sprechen Stadt Theresa Traum Untertan Zitat Österreich ÖVP

Sitemap

Archive

  • Januar 2021 (1)
  • November 2020 (1)
  • Oktober 2020 (4)
  • August 2020 (4)
  • Juni 2020 (1)
  • Mai 2020 (1)
  • April 2020 (3)
  • März 2020 (3)
  • Januar 2020 (3)
  • Dezember 2019 (1)
  • November 2019 (9)
  • Oktober 2019 (2)
  • September 2019 (3)
  • August 2019 (2)
  • Juli 2019 (3)
  • Juni 2019 (1)
  • Mai 2019 (3)
  • April 2019 (1)
  • März 2019 (1)
  • Februar 2019 (4)
  • Mehr...

© 2021 by Dr. Conrad Lienhardt — Dies ist eine ausschließlich privat genutzte Webseite | Datenschutz • Kontakt • Hilfe