erinnern und erinnern
Ich habe ein sehr gutes Episodengedächtnis, sehr detailliert. Wenn ich mich beispielsweise an einen Raum erinnere, in dem ich gelebt habe oder wo ich zu tun hatte, dann kann ich mich darin bewegen und nicht selten sind es fast fotographische Bilder, etwas seltener akustische und olfaktorische Eindrücke, die da sehr präzise „aufsteigen”. Manchmal bin ich überrascht, was eine Erinnerung ans Licht bringt, als würde es mir im Moment erst bewusst, als sei etwas an einem anderen Ort in meinem Gedächtnis verborgen gewesen und nun ins Bewusstsein gehoben worden. Das ist sehr anregend, immer bereichernd. Es kommt so immer auch zu Entdeckungen.
Erst in den letzten Jahren, besonders seit einigen Wochen wurde mir klar, dass diese Erinnerungen detaillierte Beschreibungen darstellen. Wenn ich etwas rieche, dann rieche ich das nicht, sondern ich kann den Geruch beschreiben. Wenn ich mich an Geräusche erinnere, dann ist es, als würde ich sie beschreibend erleben. Es fehlt aber immer das Spüren zunächst und dann fehlen die Gefühle, die dadurch ausgelöst wurden. Die Gefühle, die dabei kommen, sind aus der Gegenwart und beziehen sich darauf, was diese Erinnerung bei mir auslöst. Es sind nicht die Gefühle von damals. →
Wird eine Erinnerung jedoch durch ein Spüren, einen Sinneseindruck und nicht durch „Nachdenken” getriggert, weil mir ein Geruch in die Nase kommt, dann kommen ebenfalls sehr detaillierte Bilder und Eindrücke, allerdings stark verknüpft mit Gefühlen. Es ist, als wäre ich ganz dort. Ich erlebe, was der dunkle Keller auslöst, spüre, wie mein Herz stärker schlägt, sich die Atmung beschleunigt und ich ängstlich werde, wie mir kalt wird und wie geschärft ich hinhöre, ob da noch jemand im dunklen Keller sei. Anders als bei der erinnerten Erinnerung beschreibt mein Gedächtnis das nicht, sondern die Erinnerung nimmt von mir körperlich Besitz. Es ist wie bei einem Flashback. Dieser Tage roch ich zufällig frisches Leder und das triggerte die Erinnerung an mein rindsledernes Pausentäschchen, das ich mir auf den Weg zum Kindergarten umhängte, mit dem in Pausenbrotpapier eingewickelten Pausenbrot, zwei Scheiben, mit viel Butter und ein wenig Wurst aufeinander gelegt und dann halbiert. Diese Mischung aus Ledergeruch, frischem Brot, Wurst und Butter war so präsent und löste weitere Gefühle aus, die Ängstlichkeit, den Widerwillen in den Kindergarten gehen zu müssen, wo die geistlichen Schwestern grob waren und auf Züchtigungen standen. Es war, als versicherte mich der Geruch der Pausentasche, dass es nicht ganz so schlimm werden würde. Nun erinnerte ich mich an die Enttäuschung, wenn eine Schwester die Hälfte meines Pausenbrotes einfach weg nahm und, ohne mich zu fragen, einem anderen Kind gab, das mich noch dazu ständig sekkiert hatte, nur weil dieses Kind von zuhause nie Pausenbrote mitbekam. Ich erinnerte mich nicht nur daran, dass ich das ungerecht fand, sondern ich spürte es und durchlebte die Gefühle von Hilflosigkeit, Demütigung und unterdrückter Wut und Zorn. Manchmal sind die Gefühle von einer Intensität, die für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nicht ungewöhnlich sein mögen, wenn ich sie allerdings in meinem Alter durchlebe, können sie durchaus sehr heftig und anstrengend sein.
Es ist seltsam. Komme ich getriggert durch Gerüche in die Erinnerung, erlebe ich die Gefühle und erinnere mich an sehr viele Details, als wäre ich zurückgekehrt. Wenn ich mich aber einfach so erinnere, dann bleibt es bei erstaunlich detaillierten Erinnerungen, die Gefühle bleiben weitgehend unzugänglich, so sehr ich mich darum auch bemühe. Ein spannendes Feld, das ich weiter erforschen werde - nicht nur kognitiv, sondern im Erleben.
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