Die Musik von Astor Piazzola begleitet mich seit meinen Studienzeiten Anfang der Achtziger Jahre. Als ich kürzlich „Los Pajaros Perdidos” hörte, eine Aufnahme von Milva und Piazzola, schon nach den ersten Takten, spülte mich dies in eine intensive Körpererinnerung. Das Gefühl, in einem Bett mit Satinbezügen zu liegen, das Spüren, wie die rauhen Fersen auf Satin fast ein wenig kratzen. Da hatte ich erstmals und viel und vor allem begeistert Astor Piazzola gehört. Das Hören des Liedes, speziell dieses Liedes, hat diese Körpererinnerung wach gerufen.
Tag: "Gedächtnis"
Die Gefahr einen Ansteckung mit Sars-CoV2, also Covid oder Corona ist zweifellos gegeben, trotz aller Umsicht und Vorsicht. Rational betrachtet ist die Gefahr eines tödlichen Verlaufs allerdings gering, in meinem Fall wohl nicht höher, als bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen. Davor habe ich keine Angst. Angst habe ich vielmehr davor, bei einer, auch leichteren Infektion meinen Geruchssinn und meinen Geschmackssinn zu verlieren, nicht weil ich eine feine Nase und empfindliche Geschmackskospen hätte und um Essens- und Trinkfreuden fürchtete. Das weniger. Aber über den Geruchssinn und Geschmackssinn, vor allem aber über den Geruchssinn habe ich Zugang zu einem Gedächtnis, zu dem ich ansonsten keinen Zugang finde. Bei Gerüchen überfällen mich häufig, wie im Flash, Erinnerungen, manchmal verbunden mit fotografischen, sehr detaillierten Bildern, Klängen und wiederum Gerüchen und – was immer wieder überraschend ist – Gefühlen und Erregungszuständen, wie ich sie damals wohl hatte. Ich empfinde das als ein großes Geschenk.
Ich habe ein sehr gutes Episodengedächtnis, sehr detailliert. Wenn ich mich beispielsweise an einen Raum erinnere, in dem ich gelebt habe oder wo ich zu tun hatte, dann kann ich mich darin bewegen und nicht selten sind es fast fotographische Bilder, etwas seltener akustische und olfaktorische Eindrücke, die da sehr präzise „aufsteigen”. Manchmal bin ich überrascht, was eine Erinnerung ans Licht bringt, als würde es mir im Moment erst bewusst, als sei etwas an einem anderen Ort in meinem Gedächtnis verborgen gewesen und nun ins Bewusstsein gehoben worden. Das ist sehr anregend, immer bereichernd. Es kommt so immer auch zu Entdeckungen.
Erst in den letzten Jahren, besonders seit einigen Wochen wurde mir klar, dass diese Erinnerungen detaillierte Beschreibungen darstellen. Wenn ich etwas rieche, dann rieche ich das nicht, sondern ich kann den Geruch beschreiben. Wenn ich mich an Geräusche erinnere, dann ist es, als würde ich sie beschreibend erleben. Es fehlt aber immer das Spüren zunächst und dann fehlen die Gefühle, die dadurch ausgelöst wurden. Die Gefühle, die dabei kommen, sind aus der Gegenwart und beziehen sich darauf, was diese Erinnerung bei mir auslöst. Es sind nicht die Gefühle von damals. →
Bücher lesen, Kunst betrachten und Musik hören ist wesentlich in meinem Leben. Über Jahre erlebte ich, wie sich Eindrücke, Erkenntnisse, Fragen übereinander legten, wie Rilkes wachsende Ringe, die sich über die Dinge ziehn, verwoben und verdichtet. Seit einigen Jahren entgleiten Erinnerungen, entgleitet Wissen und verblassen frühe Einsichten. Das ist eine Herausforderung, damit zurecht zu kommen, zu erleben, dass all das allmählich verbleicht in der Zeit, wie die Buchrücken im Regal, auf die Jahr um Jahr die Sonne scheint.
In jungen Jahren wusste ich nach den ersten Augenblicken, ob ich einen Film schon gesehen, eine Musik schon gehört hatte. Ich wusste nach wenigen Worten, ob ich einen Artikel, ein Buch oder ein Gedicht schon gelesen hatte. Selbst trash war davon nicht ausgenommen. Nun kommt es vor, dass ich eine ganze Folge einer Serie schauen kann und mich nicht daran erinnere, obwohl ich zuverlässig weiß, dass ich die Folge schon gesehen haben muss.
Unterhaltung scheint mein Gedächtnis offenbar weniger anzuregen als früher. Unterhaltung ist das, was den Augenblick angenehm macht, aber weder für die Vergangenheit noch die Zufkunft bedeutsam ist. Warum das also im Gedächtnis behalten? Im Alter wird mein Gedächtnis offenbar anspruchsvoller. Das hat gewichtige Vorteile: Ich merke mir wirklich Dinge mit Bedeutung und vergesse Beiläufiges. So kann ich mir mit zunehmendem Alter Serien wohl immer wieder anschauen, mit ungetrübtem Unterhaltungswert, weil ich mich nicht daran erinnern werde – einzige Ausnahmen werden anspruchsvolle Mise en Scène bleiben.
Manchmal frage ich mich, wer bei mir Regie führt. Ich wollte zu einem Foto in einem Tweet eigentlich schreiben: „Es war ein wunderschöner Tag und ich habe es genossen, im Wasserwald in Linz spazieren zu gehen. Diesen Leberblümchen Blumenteppich musste ich fotografieren.” Stattdessen schrieb ich von „Löwenblümchen”. Worauf jemand antwortete: „Leber” — und es dauerte ein Weilchen, bis ich es verstand.
Ich will „Leberblümchen” schreiben, aber Es schreibt tatsächlich „Löwenblümchen”. Da dürfte es wohl Abstimmungsprobleme im inneren Team geben.